Lothar Hay will Kommunalpolitiker abschaffen

gepostet von Johan am

Wir leben bekanntlich in einer parlamentarischen Demokratie. Naja, fast. Das parlamentarische System soll sich eigentlich auch in der kommunalen Selbstverwaltung bewähren.

Lothar Hay fordert jetzt mehr direkte Bürgerabstimmungen im kommunalen Bereich. Eine massive Begrenzung der kommunalpolitischen Kompetenzen also. Wenn der Bürger sowieso direkt abstimmen soll – warum dann noch kommunalpolitische Vertreter? Wer soll das machen, wenn er sowieso nicht mehr entscheiden soll?

te>Schleswig-Holsteins Innenminister Lothar Hay (SPD) hat bei Entscheidungen auf kommunaler Ebene mehr Einwohnerversammlungen und Bürgerentscheide gefordert. „Das belebt die Demokratie und bringt die Sachthemen näher an die Menschen heran“, sagte Hay

Bezeichnenderweise sagte er das am Rande einer Veranstaltung bei der kommunalpolitische Ehrenamtler geehrt wurden.

Kommentare

  1. Stecki

    Populisten aller Länder: Vereinigt Euch!
    Man könnte an dieser Stelle viele gute Argumente bringen, warum sich die repräsentative Demokratie bewährt hat und bewahrt werden sollte. Und warum die Behauptung, daß mehr Bürgerentscheide (nichts spricht gegen mehr Einwohnerversammlungen, wenn denn da auch repräsentative Anzahl und Querschnitte von Einwohnern auftauchen) ein Mehr an Demokratie seien, reine Augenwischerei ist. Und daß man schwieriege politische Abwägungen und häufig komplizierte Kompromisse sehr sehr schlecht (eigentlich nie) in simple Ja/Nein-Abstimmungen pressen kann. Und daß es dann inkonsequent ist, nicht ALLES, sondern nur speziell herausgepickte Fragestellungen durch die Bürger abstimmen zu lassen. Und und und. Aber ich erspare mir das, weil ich von Tag zu Tag immer frustrierter bin, wie glasklare Fehlanalysen zu politisch nachhaltig katastrophalen Fehlentscheidungen führen und man immer mehr nur noch Kosmetik und PR (ob ich damit Public Relations oder Propaganda meine, überlasse ich dem Leser) statt substantielle Problemlösung macht – und sich dafür dann noch abfeiert. Die Mechanismen der Demokratie fördern ein solches Verhalten ja leider geradezu. Ernsthaftigkeit, Nachhaltigkeit und Sachlichkeit werden bestraft. Jedes Volk bekommt eben nicht nur die Politiker, sondern auch die Politik, die es verdient… 🙁

  2. Daniel

    Na, jetzt mal halblang: Von „mehr direkte Demokratie“ bis „Kommunalpolitiker abschaffen“ ist es ja doch ein weiter Weg. Zumal ich nichts Schlechtes daran erkennen mag, wenn sich Bürger direkt vor Ort in die Belange, die sie betreffen, einmischen. Sich für etwas einsetzen, was sie bewegt, sich allerdings nicht an eine Partei binden wollen.
    Wahlen und Bürgerentscheide sind keine repräsentativen Umfragen. Und Mittel und Wege, die Leute dafür zu begeistern, sich und ihre Meinung einzubringen und so vielleicht wieder mehr für das politische System, in dem sie leben, zu begeistern, sollten auch dann genehm sein, wenn es den Interessen von Kommunalpolitikern im ersten Moment zuwider läuft.

  3. Luke

    Wahlen sind keine repräsentativen Umfragen… ja das stimmt. Es sind Wahlen! Stecki hat vollkommen Recht, wo wird denn dann die Grenze gezogen, was darf der Bürger mitentscheiden und was nicht? Es schwächt auf jedenfall die Kommunalpolitik.

  4. Kai

    Nun ja – etwa 60% der Bürger sind gar nicht erst zur Wahl gegangen und offenkundig mit der jetzigen Form nicht wirklich zufrieden…

  5. Daniel

    @Luke: Die Grenze wird in der Kommunalverfassung gezogen: Bürgerbegehren und -entscheid sind nach Auskunft des Vereins „Mehr Demokratie“ dort seit 1990 verankert. Also auch keine Erfindung Herrn Hays. Das Instrument ist da, es muss nur gespielt werden. Das schwächt vielleicht die Kommunal-POLITIKER, kann aber die Kommunal-POLITIK stärken.
    Eine Ablehnung direkter Demokratie reduziert tendenziell die Bürger auf Wahlvolk. Sorry, aber da ist mir eine potentiell geschwächte Kommunalpolitik lieber als ein nicht ernst genommener Souverän.

  6. Daniel

    Jetzt hab ich’s: GO � 16g/f

  7. Stecki

    @Kai: Man sollte mit solchen Hypothesen vorsichtig sein. Man kann es auch so deuten, daß vielen Menschen egal ist, was vor Ort läuft. Dafür spricht ja auch die Tatsache, daß – wenn nicht gerade ein anschauliches Aufregerthema da ist – kaum jemand den öffentlichen Sitzungen beiwohnt, Einwohnerversammlungen besucht, sich bei Parteien/Fraktionen informiert, Bürgersprechstunden der nutzt oder sich anderweitig einzubringen versucht. Auch die Berichterstattung vieler (nicht aller, es gibt positive Ausnahmen) Medien über Kommunalpolitik ist nicht unbedingt besonders umfangreich oder von Sachkenntnis oder dem Versuch, Hintergründe und Zusammenhänge darzustellen, geprägt.

    @Daniel: Die rechtlichen Hintergründe sind denke ich allen, die sich hier im Blog tummeln, klar, da wir ja doch meist etwas häufiger in der GO etc rumblättern 🙂
    Daß es Bürgerbegehren und Bürgerentscheid schon lange gibt, hat auch niemand bestritten. Man muß diese Instrumente deshalb noch lange nicht für richtig halten – unabhängig davon, ob/wann sie mit welchem Erfolg benutzt werden. Ich halte das Konstrukt rechts- und demokartiesystematisch für problematisch, weil es – da möchte ich mich nicht wiederholen, führe es nur der Vollständigkeit halber hier auf – komplexe Fragen auf alternativ- und kompromißlose Ja/Nein-Aspekte reduziert, weil die punktuelle und selektive Abstimmung über Einzelfragen zum einen eine nicht unerhebliches Einfallstor für Simplifizierer, Populisten und Demagogen darstellt, weil es die Verantwortlichkeiten verwischt (zumal auch niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann) und die nur punktuelle Vertretung von Partikularinteressen fördert und damit auch ganzheitliche Politikansätze verhindert (sofern eben wie von Hay gewünscht davon deutlich mehr Gebrauch gemacht wird). Es ist meines Erachtens ein nicht zu unterschätzendes Plus eines repräsentatievn Systems, daß bei Entscheidungen vermittelnde Lösungen, Kompromisse und längerfristige Mehrschrittigkeit möglich sind und die Entscheidungswege durch Fraktionen und Gremien dafür sorgen, daß das Bauchgefühl der Masse ein wenig rausgefiltert wird und sich die Entscheidungsträger in Gesamtverantwortung sehr speziell und intensiv mit den Themen befassen – immer mit dem Gemeinwohl und nicht einzelnen Lobbygruppen im Blick.
    Zu behaupten, daß Kommunalpolitiker den Souverän nicht ernst nehmen würden, finde ich im Übrigen enorm ungerecht. Das Gegenteil ist in der Praxis doch der Fall!

  8. Johan

    Das für mich wesentliche Problem hat Malte schon angesprochen. Der Weg weg vom parlamentarisch-repräsentativen hin zum direkt-demokratischen Abstimmungsprozess hat entscheidende Nachteile, insbesondere, was die Abwägung langfristiger Entscheidungen und komplexer Vorgänge angeht.

    Nicht umsonst hat man nach den Erfahrungen der WEimarer Reichsverfassung Abstand von direkten Elementen genommen. Hier ist eben die Gefahr von Populismus sehr groß. Außerdem lässt sich kaum eine Frage auf eine simple Ja/Nein – Antwort bringen, ohne, dass die Möglichkeit zur direkten ERörterung und Feinschliff an der Formulierung gegeben ist.

    Weiter liegt es offensichtlich in der Natur von Abstimmungen, dass im Wesentlichen die Gegner oder Befürworter eines bestimmten Vorhabens zur Abstimmung gehen. Die breite Masse beteiligt sich nicht, weil sie sich nicht direkt von der Thematik betroffen fühlt. Die Beteiligung an solchen Abstimmungen außerhalb von Wahlen dürfte extrem gering sein. Bei Zusammenlegung mit einer Wahl besteht die große GEfahr/Wahrscheinlichkeit, dass die Wahlthemen die Sachabstimmung beeinflussen / überlagern. Danach kommt dazu die Frage dazu, aber welcher Beteiligung ein Votum wirklich repräsentativ sein kann.

    Und mal von diesen Themen ab bleibt das Problem: Entweder wähle ich Politiker um Entscheidungen zu treffen und unterschiedliche Argumente und Vorhaben gegeneinander abzuwägen, oder ich führe direkte Volksentscheide durch. Mache ich beides wird beides ad absurdum geführt.
    1.: Der Politik passt das Votum der Bevölkerung nicht und wird übergangen
    2.: Die Bevölkerung überlagert mit ihrem Votum langfristige politische Überlegungen und macht eine sorgfältige, langfristige Planung unmöglich.

  9. Daniel

    Ist die Populismus-Gefahr beim repräsentativen Modell geringer? Stimmung machen kann man auch ohne Abstimmung. Die „Bürger für Ahrensburg“ sind da denke ich ein gutes Beispiel: Mit seiner Gründung kurz vor der Wahl hatte der Verein meines Erachtens größeren Einfluss auf die Politik als durch die Mittel direkter Demokratie möglich gewesen wären.
    Die Hürden, die bei Bürgerbegehren und -entscheid zu nehmen sind, erfordern jedenfalls ausdauernde Populisten.
    Ich wollte zudem nicht behaupten, dass die Kommunalpolitik den Souverän nicht ernst nimmt. Allerdings sollte dieser Einflussmöglichkeiten auf die Politik haben, die über einen Urnengang alle paar Jahre hinaus geht.
    Es klingt bei euch fast, als würde künftig wöchentlich gleich mehrere Bürgervoten geben. 2007 gab es landesweit 17 Bürgerbegehren (nicht alle sind für zulässig befunden worden). Ich denke, auch Herr Hay will nicht die Selbstverwaltung abschaffen, aber was spricht dagegen, wenn der Bürger tatsächlich häufiger gefragt wird? Aus eurer Argumentation lese ich heraus, dass ihr den Bürgern ein fundiertes Urteil nur in Ausnahmefällen zutraut – im Normalfall liegt die „breite Masse“ einfach falsch und macht langfristig ausgelegte Politik unmöglich. Dazu ein Gedanke: Es steht der Politik doch offen, argumentierend auf direkte Demokratie einzuwirken.
    Es geht weg vom parlamentarisch-repräsentativen System? Wohl kaum. Außerdem kennt ihr die Beteiligung an der jüngsten Kommunalwahl. Das Sytem steckt meiner Ansicht nach in einer Akzeptanzkrise, aus der auch eine Legitimationskrise erwachsen kann. Sollte es da nicht angezeigt sein, die Bürger wieder für Politik (auch und gerade vor Ort) zu interessieren?
    Gretchenfrage: Was ist schlecht daran, wenn die Bürger sich aktiv daran beteiligen, was vor ihrer Haustür politisch geschieht?

  10. Holger Cordes

    Gerade auf kommunalpolitische Ebene halte ich die Arbeit von Verwaltung und politischen Parteien für recht nah am Bürger. Die jeweiligen Vertreter sind für mich bekannt und jederzeit ansprechbar. Menschen sind miteinander im Gespräch. Entscheider und Betroffene. Ich kann mich in den Ausschüssen der Stadt Elmshorn zu Wort melden……. Welche „flankierenden“ Maßnahmen können nun geeignet sein, die Akzeptanz unserer Demokratie auf kommunalpolischer Ebene zu verbessern?

    In einigen wenigen Entscheidungen (Vielleicht 2-5), von den unzähligen, die über das Jahr getroffen werden, könnte ich mich vielleicht Sachkundig machen und einigermaßen kompetent darüber abstimmen. Aber wäre dann die Bürgerbeteiligung nicht noch geringer als bei den Kommunalwahlen und würden starke Interessenverbände jedweder Art nicht zu sehr an Einfluß gewinnen?

    Wesentlich stört mich am jetzigem System, die Einflußnahme über Fördermittel. Es entstehen z.B. Sachzwänge durch die Finanzierung von Maßnahmen mit zusätzlichen Landes-/Bundes-/EU-Mitteln, die bestimmten Anforderungen entsprechen müssen. Die freie Entscheidung für einen Fördertopf bindet Haushaltsmittel. Dabei ist die Nachhaltigkeit eines Projektes für die Kommune/eine Region nebensächlich. Entscheidend ist, das die Maßnahme dem Katalog des Fördertopfes entspricht. Damit will ich nicht zum Ausdruck bringen, dass nicht diskutiert wird, welchen Nutzen diese Maßnahmen überhaupt haben. Der Nutzen wird für mich eher überbewertet.

    Zwei Beispiele sind für mich:

    Ist die geplante neue Brückenquerung nach Skandinavien der vielversprechende Knaller für Schleswig-Holstein? Wird die neue Hafenspange in Elmshorn das Ding für unseren Standortvorteil? Hier schafft Förderung massig Beton, der wohl hoffentlich wenigstens lange hält. Alles weitere wird nach Bauabschluss fürchte ich eher ein laues Lüftchen bringen als einen Rückenwind, der richtig anschiebt und Vorwärts bringt.

    Ob da ein Bürgerentscheid eine gute Möglichkeit der Einflussnahme ist?